Im Gespräch – „Erstarren und auftauen“

Maria Katharina Moser über den Neubeginn nach der Katastrophe

 
von Evangelischer Pressedienst
"Angst lässt uns entweder ausflippen – schreien, weinen, um uns schlagen – oder erstarren." Foto: pixabay/Free-Photos
"Angst lässt uns entweder ausflippen – schreien, weinen, um uns schlagen – oder erstarren." Foto: pixabay/Free-Photos

Maria Katharina Moser über den Neubeginn nach der Katastrophe

Erstarren ob der Katastrophe, die das ganze Leben aus den Angeln hebt. Das Wort Katastrophe kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Umwendung“. Die Wendung ist lebensbedrohlich, löst Angst aus. Angst lässt uns entweder ausflippen – schreien, weinen, um uns schlagen – oder erstarren. Von letzterem erzählt die biblische Geschichte von Lots Frau. Sie lebt in Sodom. Die Bewohner der Stadt achten weder Gott, noch andere Menschen und ihre Würde. Da lässt Gott Feuer und Schwefel über Sodom regnen. Lots Familie kann fliehen. „Mach dich auf“, sagt ein Engel zu Lot, „rette dein Leben und sieh nicht hinter dich.“ Lots Familie rennt um ihr Leben. Lots Frau aber bleibt stehen, dreht sich um, sieht zurück – und erstarrt angesichts der niederbrennenden Stadt zur Salzsäule.

Auch der kleine Abdel Karim ist erstarrt. Während der ersten zwei Monate in der Lerngruppe im Gemeindezentrum der assyrischen Kirche in Sed Bouchrieh, einem Vorort der libanesischen Hauptstadt Beirut, hat er kein Wort gesprochen. „Er hat sich einfach hingelegt und geschlafen“, erzählt mir Pascal. Sie leitet ein Programm der Hilfsorganisation IOCC (International Orthodox Christian Charities), einer Partnerorganisation der Diakonie Katastrophenhilfe, das assyrische Flüchtlingskinder unterstützt.

Abdel Karims Familie gehört zur christlichen Minderheit der Assyrer, die im Grenzgebiet zwischen Irak und Syrien lebt. Lebte. Die assyrischen Christen gerieten zwischen die Fronten von Kurden und IS, wurden grausam verfolgt – ähnlich wie die Jesiden. Eine humanitäre Katastrophe, die wenig im Blick der Weltöffentlichkeit ist – zum morgigen Internationalen Tag der humanitären Hilfe sei daran erinnert.

Viele Assyrer sind in den Libanon geflohen. Sie hoffen auf ein neues Leben in den USA, in Kanada, Australien oder Europa und warten, ob sie in ein so genanntes Resettlement-Programm aufgenommen werden. Bei manchen geht das schnell, andere warten Monate, wieder andere Jahre. „In ihrem Leben ist der Pausenknopf gedrückt“, sagt Pascal. „Die Eltern schicken die Kinder oft nicht in die Schule. Es dauert ja nicht mehr lange, und wir sind weg von hier, denken sie.“ Ziel von IOCC ist, dass die assyrischen Kinder die Pflichtschule besuchen. Mit Kursen werden sie darauf vorbereitet.

„Es braucht viel Geduld und auch psychologische Unterstützung“, sagt Pascal. „Nach zwei Monaten hat Abdel Karim angefangen zu reden. Zuerst hat er Laute von sich gegeben. Wir haben ihn ermutigt, sich auszudrücken – auf welche Art auch immer. Und jetzt – du siehst ja den Erfolg.“ Ich schaue zu Abdel Karim, der neben mir sitzt und eifrig schreibt. Keine Spur mehr von Erstarrung. Abdel Karim hebt den Kopf, grinst und zeigt mir die Zunge. Ich freue mich und zeige ihm auch die Zunge. Wir lachen.

Dr. Maria Katharina Moser ist Direktorin der Diakonie Österreich. Kontakt: *protected email*

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