Schleiermacher für die Praxis: Symposium hält Theologen aktuell

200 Jahre „Glaubenslehre“ – Überlegungen zur Kirche der Zukunft

 
von Gratzer

200 Jahre „Glaubenslehre“ – Überlegungen zur Kirche der Zukunft Wien

Theologie und Kirche in den Kontext ihrer Zeit zu stellen war eine der Lebensaufgaben des evangelischen Theologen Friedrich Schleiermacher (1768 - 1834). Schleiermachers Denken selbst haben jetzt junge Theologinnen und Theologen für ihre eigene Gegenwart aktualisiert. Bei einem virtuell abgehaltenen Symposium am Freitag, 12. Februar, anlässlich des 200-Jahr-Jubiläums der Veröffentlichung von Schleiermachers „Glaubenslehre“ zeigten sie auf, dass der deutsche evangelische Theologe zwar Ansätze dafür geben könne, Kirche, Studium und Gesellschaft neu zu denken. Deutlich wurde aber auch die These vertreten, dass grundlegende Elemente seiner Theologie der Pluralität der Gegenwart nicht mehr gerecht würden. Thesen für eine „zukunftsfähige Kirche“ Die zunehmende Ablehnung gegenüber der Kirche seiner Zeit habe Friedrich Schleiermacher „nicht als Bedrohung, sondern als Anreiz gesehen, Kirche neu zu gestalten“, betonte etwa Livia Wonnerth-Stiller in ihrem Vortrag. Auch heute nähmen die Kirchenaustritte zu. Das nahm die Vikarin an der Christuskirche in Wien-Favoriten zum Anlass, im Anschluss an Schleiermacher

 

Thesen für eine „zukunftsfähige Kirche“ vorzulegen.

So solle Kirche stärker als „Kommunikationsraum“ genutzt werden. Damit solle es gelingen, auch Kirchenferne mit Kirchenräumen in Berührung kommen zu lassen. Gottesdienste seien als „Darstellungsräume für den Sinn und den Geschmack für das Unendliche“ wahrzunehmen, etwa durch den Einsatz von Musik oder redender Kunst. Es gelte, das Christentum „von unten“ in den Gemeinden zu legitimieren. Dazu brauche Kirche „klare Strukturen und verschiedene Leitungsorgane“.

Gleichzeitig müsse sie die „Zeichen der Zeit erkennen“ und innovativ reagieren: „Kirche ist nach Schleiermacher nicht unveränderlich. Das gilt auch für die Praxis.“ Sie sei zudem auf Zusammenarbeit angewiesen, sei es im regionalen Kontext, in der weltweiten Ökumene, oder im interreligiösen Dialog. Kirchenbindung schließlich könne man durch neue „Identifikationsangebote“ schaffen. Dazu müssen die Menschen, die Aufgaben übernehmen oder übertragen bekommen, aber mit vollem Herzen dabei sein: „Was nicht vom Herzen kommt, kann nicht zum Herzen gehen“, zitierte Wonnerth-Stiller den Theologen.

 

„Theologie kann nicht rein universitär bleiben“

Christopher Türke nahm Schleiermachers Überlegungen zum Anlass einer Kritik an der gegenwärtigen Form des universitären Theologiestudiums. Bereits Schleiermacher habe die Ausdifferenzierung der theologischen Fächer bemängelt und sie vielmehr „konstruktiv aufeinander bezogen“, so der Vikar an der Wiener lutherischen Stadtkirche. Schleiermacher habe die Einheit der theologischen Disziplinen primär funktional begriffen: Es gehe darum, dass künftige Funktionsträgerinnen und -träger in der Kirche ausgebildet würden. Türke fordert daran anknüpfend einen größeren Praxisbezug des Studiums – etwa indem künftige Pfarrerinnen und Pfarrer das Predigerseminar schon während ihres Studiums besuchen können.

Es brauche ein stärker „interessens- und schwerpunktgeleitetes Studium“. Der Kanon der Fächer gehöre daher entschlackt und neu geordnet, ganz besonders gegenwärtige Glaubenspraxen seien zu untersuchen. Wie in jeder Generation müsse „auch heute bestimmt werden, was die christlich protestantische Tradition für uns ist“. Gestärkt werden müsse die Auseinandersetzung mit Kunst, Literatur und Musik. Und: „Theologische Bildung gehört auch in die Gemeinde und die Gesellschaft. Sie kann nicht rein universitär bleiben.“

 

„Schlechthinnige Abhängigkeit leuchtet heute nicht mehr ein“

Schleiermachers Theologie ist besonders geprägt vom Begriff der „schlechthinnigen Abhängigkeit“. Er drücke die Erfahrung aus, „dass sich der Mensch nicht selbst gemacht hat“ und liege jeder Frömmigkeit zugrunde, stellte Eva Harasta, theologische Referentin von Bischof Michael Chalupka, in ihrem Referat heraus. Dieser – zunächst rein formale – Ansatz habe in Schleiermachers Zeit überzeugt, da er zugleich avantgardistisch als auch traditionell war, die Philosophie seiner Zeit mit der christlichen Dogmatik verband. Dennoch leuchte er heute nicht mehr ein, betonte Harasta. Schleiermacher definiere Menschsein primär als Selbstbewusstsein – das eben die Erfahrung der Abhängigkeit von Gott mache. Das aber verdränge die „prozesshafte Lebendigkeit des Menschseins“. Zwar wolle das Konzept der schlechthinnigen Abhängigkeit universell gültig sein, verweise aber selbst nur auf ihren eigenen Entstehungskontext im deutschen Idealismus.

Auch methodisch bilde sein Ansatz, der von Konsistenz, Geschlossenheit und System geprägt sei, nicht die Vielfalt an Frömmigkeitserfahrungen ab. Zudem setze Schleiermacher als Gottesbild einen „allmächtigen Vater“ voraus, seine Theologie ignoriere Erfahrungen wie die der Mutterschaft und trage damit „patriarchale Züge“. Und obwohl Schleiermacher das Verbindende hervorheben wollte, sei er am Ende doch von der Überzeugung ausgegangen, dass die christliche Tradition die vollkommene Form der Frömmigkeit sei: „Es geht aber darum, Normativität neu zu denken und den Beitrag anderer Religionsgemeinschaften neu zu würdigen“, so Harasta.

Weitere Referate kamen von den Pfarrer*innen Clarissa Breu, Lubomir Batka, Johannes Modeß und Helene Lechner, Pfarramtskandidat Thorben Meindl-Hennig und der Philosophin Esther Ramharter. Der Wiener Superintendent Matthias Geist sprach Grußworte. Organisiert wurde die Veranstaltung via Zoom von der Evangelischen Akademie Wien und dem AlbertSchweitzer-Haus-Forum in Kooperation mit der Wiener Superintendenz.

 

Quelle: epdÖ vom 17.02.2021

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