Vergeben, aber nicht vergessen

 
von Evangelischer Pressedienst

Maria Katharina Moser über die Chance auf einen neuen Anfang

„Paco, komm am Dienstag zu Mittag ins Hotel Montana. Alles vergeben. Papa.“ So lautet eine Anzeige in der Zeitung El Liberal. 800 junge Männer kommen auf die Anzeige hin. Der Auflauf vor dem Hotel ist so groß, dass die Polizei die Menge auseinandertreiben muss. Mit dieser Anekdote beginnt Ernest Hemingway seine berühmte Kurzgeschichte „Die Hauptstadt der Welt“. Der Witz dieser Geschichte liegt in der Häufigkeit des Namens Paco im Spanischen. Ihr tieferer Sinn aber liegt im Bedürfnis nach Vergebung. Mit Vergebung verbindet sich die Sehnsucht, dass beschädigte Beziehungen wieder heil werden.

Müssen wir also immer vergeben? Ich meine, nein. So tief die Sehnsucht nach Vergebung ist, so kompliziert und vielschichtig ist vergeben. Zunächst ist wichtig: Vergebung kann kein Imperativ sein, keine Aufforderung und schon gar kein Anspruch. Ob Vergebung möglich ist, kann allein derjenige sagen, dem Unrecht zugefügt wurde, diejenige, die verletzt wurde.

Was heißt Vergebung eigentlich? Die Bibel beschreibt, was Gott tut, wenn er vergibt: Er rechnet die Schuld nicht zu. Gott hält nicht ewig fest an seinem Zorn, schreibt der Prophet Micha: „Er wird sich unser wieder erbarmen und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.“ Das tun auch wir Menschen, wenn wir vergeben: Wir lasten anderen ihre Schuld nicht an.

Aber ist das nicht ungerecht? Kommen Täter und Täterinnen da nicht billig davon? Was ist mit der Verantwortung für das Leid und das Unrecht, das Menschen anderen Menschen zufügen? Ich stelle mir vor, dass der Vater zu Paco etwas Ähnliches sagt wie: „Sohn, du hast deine Mutter und mich tief verletzt, als du dich einfach auf und davon gemacht und auch noch das Sparbuch mitgenommen hast. Das war nicht in Ordnung. Aber du bist unser Sohn. Wir wollen die Beziehung zu dir nicht abbrechen. Komm, lass uns nach Hause fahren, gemeinsam essen und neu anfangen.“ Zum Vergeben gehört, Unrecht und Verletzungen klar zu benennen und auch zu verurteilen. Das ist nicht billig. Denn es bedeutet, sich mit den eigenen Untaten zu konfrontieren, verlangt die Übernahme von Verantwortung: bekennen, bereuen, umkehren. Und das ist alles andere als einfach.

Vergeben und vergessen, sagen wir gerne. Das finde ich nicht richtig. Vergeben heißt nicht vergessen. Der Unrechtscharakter bleibt. Er wird nicht aufgehoben. Aber das Leben – sowohl das Leben von Paco als auch das Leben der Eltern – schrumpft nicht auf die Unrechtstat zusammen. Vergebung löst die Fesseln des früheren Tuns, entbindet von den Folgen der Tat, wie die Philosophin Hannah Arendt schreibt. So ermöglicht Vergebung einen neuen Anfang.

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